Freitag, 1. Januar 2010

~ Auch das Fürchten soll man lernen ~

 

Autor: Aristophanes


Grimms Märchen – ein kultureller Schatz und mit ihren archaischen Symbolen und Seelenbildern bedeutsam für das Heranwachsen einer gesunden Gesellschaft..

Gleichwohl: Viele Pädagogen lehnen Grimms Märchen wegen ihrer Grausamkeiten schon seit einigen Jahren in zunehmendem Maße ab. Groß ist der Aufschrei, wenn es darum geht, die Sprösslinge unserer hochwohlgeborenen Gesellschaft vor bösen Hexen und der Aufzählung jener drakonischen Strafen zu bewahren, die das Böse zum guten Ausgang des Märchens immer ereilen.

In der Grausamkeit, die nebenbei bemerkt nie detailliert beschrieben wird, liegt allerdings ein gewichtiger, psychologischer Auflösungsprozess, der Kindern mehr und mehr verweigert wird. Das Besiegen oder die Überwindung einer lebensbedrohlichen Situation ist wichtig, um die zuvor ins Chaos gestürzte Ordnung wieder herzustellen, die durch ein Unglück – oft dargestellt als Tod der Eltern – einen Unfall, eine Verirrung oder eine andere bedrohliche Ausgangsposition aus den Fugen geraten ist und welche für den Protagonisten mit der reinen Seele die schutzlose Auslieferung in eine grausame Welt voller Gefahren bedeutet.

In Zeiten der Altvorderen wurden Jugendliche noch traditionell durch eine Zeremonie feierlich und gemeinschaftlich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Dieser Ritus führte sie z. B. mit Gleichaltrigen in den Wald. Zum Überlebenstraining, um des Fürchtens Willen, damit die Furcht gebannt und überwunden werden konnte. Ziel war es, die Heranreifenden für das oftmals harte Leben zu wappnen. In einem geschützten Rahmen wurde ein Ritus vollzogen, der die Jugendlichen auf eine Bewährungsprobe stellt. Jeder muss den Weg eines Sterbeprozesses nehmen, um als neuer Mensch aus der Asche wiedergeboren zu werden. Die Raupe stirbt für den Schmetterling. Und so vollzogen die Jugendlichen zur richtigen Zeit eine öffentliche Metamorphose zur Festigung der Einheit von Geist, Körper und Seele. Gesunde Kinder für eine gesunde Gesellschaft.

Wie sieht es hingegen mit der heutigen Jugend aus? Ist die Welt angesichts ansteigender Arbeitslosigkeit, zunehmender Zerstreuung in krank machenden Sinnlosigkeiten und überall um sich greifender Perspektivlosigkeit für junge Menschen, denen so früh wie möglich die Wünsche und Visionen geraubt und zerschmettert werden etwa ein weniger gefährlicher Ort geworden? Ist diese Wildnis, der Dschungel der Zivilisation mit seiner stetig ansteigenden Zahl mit Antidepressiva behandelten Kindern und Jugendlichen weniger beängstigend oder schauriger als der dunkle Wald unserer Vorfahren?

Waghalsige Mutproben, der „Kicks“ wegen, unterdrückte Aggressionen, Entwurzelung, Depressionen, Lebensängste und –müdigkeiten nie überwundene Traumata, in Watte verpackt, behütet und niemals dem ausgesetzt, was unsere Nachkommen heil, groß, klar und mutig werden lässt, sind das heutige Szenario. Die Unterdrückung der Furcht, ja sogar die Negation und vollkommene Verweigerung der den Menschen innewohnenden Ur-Ängste setzen sich seit Generationen ungehindert fort. Ängstliche Kinder werden zu ängstlichen Eltern und die bis an die Zähne bewaffnete Gesellschaft entsetzt sich angesichts ihrer eigenen Todesängste (denn das Leben endet zwangsläufig mit dem Tod) über unkontrollierbare, amoklaufende Schulgänger.

Das Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ ist höchstwahrscheinlich aktueller denn je. Oder es hat nie an Aktualität verloren sondern ist eine zeitlose (d. h. ewiggültige) Parabel vom Fürchten. Wem schauderte als Kind nicht gern in der Atmosphäre eines geschützten Raumes, am Lagerfeuer, im Ferienlager oder zuhause bei einem Buch oder Film, wenn die Eltern ausgegangen waren? Wer die Furcht nie bewusst kennengelernt und überwunden hat, wird aller Voraussicht nach sein Leben lang damit verbringen, sich anderweitigen Nervenkitzel zu beschaffen. Und er zieht ständig umher auf der Suche, das Fürchten zu lernen – um es zu überwinden.

Oder kann es ein Zufall sein, dass heutzutage viele Jugendliche geradezu nach dem Fürchten wehklagen, indem sie zu Horror-Fans mutieren, Bahn-Surfen, Komasaufen und Killerspiele spielen?

Und welche Bräuche gibt es heute überhaupt, um unsere Kinder in geeignetem Maße in die Welt der Erwachsenen aufzunehmen? In kirchlich geprägten Gebieten sind es die Konfirmation oder Firmung, Symbol der Aufnahme in die Welt der Eigenverantwortlichkeit und religiöse Pflichtvereidigung. In kommunistischen und sozialistischen Staaten kennt man hingegen die Jugendweihe als die feierliche Anerkennung des Erwachsenenstatus, vom Regime kontrolliert, das ganz nebenher zu den Pflichten eines Erwachsenenlebens ermahnt, ganz oben anstehend die Pflicht zur Wahl und Unterstützung der politischen Führung, die er als braver Staatsbürger mitzutragen hat. Ansonsten gibt es in dieser Hinsicht gesellschaftlich nichts zu bieten. Und es ist mehr als fraglich, ob überhaupt jemand mit diesen noch erhaltenen Fragmenten je irgendeine Angst überwunden hat. (Mit Ausnahme vielleicht der Angst, die Verwandten könnten den großen Tag und damit die großen Geschenke vergessen.)

Was bleibt ist der Nachklang der Lieder und Geschichten aus Tagen, in denen das Grausen nicht unbesiegbar und in jedem Fall überwindbar war und dafür allen heutigen psychologischen sowie psychonotorischen Unkenrufen zum Trotz nicht einmal übermenschliche, irrationale Anstrengung oder todesmutige Drachenbezwinger von Nöten waren, sondern sich allein durch die Klarheit und Authentizität der Protagonisten das lebensbedrohliche Monster alsbald zu einem Häufchen Asche zerbröselte…

Wien im Dezember 2009

Copyright © Anthera-Verlag / Aristophanes