Samstag, 18. Mai 2013

~ Glossolalia – Die Zungenrede ~

Autor: Anthera



Pfingsten steht vor der Tür und da bietet sich das folgende Thema an, welches zwar ein kulturhistorisches Phänomen, aber in unseren Breitengraden trotz des christlichen Bezugs auffallend wenig bekannt ist. Die Pfingstgemeinden praktizieren die Zungenrede (als Gabe des Pfingstgeschehens) ganz bewusst in ihren Gemeinden und im Internet findet man viele Diskussionen und Videos von spirituellen Texten und Liedern, die in „Zungen gesprochen“ oder gesungen werden. In der Pfingstbewegung steht die Lobpreisung Gottes durch diese Gabe des Heiligen Geistes im Vordergrund.

Kulturhistorisch von großer Bedeutung

Ursprünglich aus dem Griechischen von glôssa (Zunge, Sprache) und laléo (sprechen) stammend, ist eine Sonderform des Sprachgebets oder Gesangs, in welchem sich per „intuitiver Eingebung“ einer unbekannten Sprache bedient wird.

Glossolalia (ich verwende die englische Schreibweise) ist eine uralte Form der Kommunikation zwischen Mensch und Gott, aber auch in anderen religiösen Zusammenhängen zwischen Mensch und Geist, Mensch und Engel oder Mensch und Heiligen. In den neueren spirituellen Strömungen auch zwischen Mensch und aufgestiegenen Meistern. Sie wird im frühen Christentum als bereits weit verbreitete Praktik vorausgesetzt, d. h. wir können davon ausgehen, dass die Wurzeln bis in die prädynastische Zeit zurückreichen und es sich hierbei um eine Form der göttlichen Kommunikation handelt, die überall auf der Welt religionsunabhängig praktiziert wurde.

Charakteristik des Mediumismus

Linguistiker und Kulturanthropologen der Universität Ohio fanden in jahrelangen Studien heraus, dass sich die Charakteristika des Zungensprechens in den heutigen Pfingstgemeinden in den wesentlichen Merkmalen wie Klang, Silbenanordnung, Vokale, Satzstellung, Intonation und Rhythmus im Kern nicht von den Praktiken nicht-christlicher Zeremonien in Afrika, Asien und Südamerika unterscheiden. Es scheint sich hier um eine Art metaphysische „Universal-Sprache“ zu handeln, mit der man – auch wenn sie weniger zur Kommunikation zwischen Menschen geeignet ist – mit den Geistkräften der Natur in Kontakt treten konnte.

Glossolalia im Christentum

Wie oben erwähnt, kennen wir im christlichen Zusammenhang das Zungensprechen durch die Apostelgeschichte beim Pfingstgeschehen. Dort ging der Heilige Geist auf die versammelte Gemeinde nieder und die Menschen begannen „in Zungen zu sprechen“.

Über das Zungensprechen steht in der Bibel u. a. folgendes.:

1. Korinther - Kapitel 14

Zungenrede und prophetische Rede

1 Strebet nach der Liebe! Fleißiget euch der geistlichen Gaben, am meisten aber, daß ihr weissagen möget! 2 Denn der mit Zungen redet, der redet nicht den Menschen, sondern Gott; denn ihm hört niemand zu, im Geist aber redet er die Geheimnisse. (Apostelgeschichte 2.4) (Apostelgeschichte 10.46)3 Wer aber weissagt, der redet den Menschen zur Besserung und zur Ermahnung und zur Tröstung.4 Wer mit Zungen redet, der bessert sich selbst; wer aber weissagt, der bessert die Gemeinde.5 Ich wollte, daß ihr alle mit Zungen reden könntet; aber viel mehr, daß ihr weissagt. Denn der da weissagt, ist größer, als der mit Zungen redet; es sei denn, daß er's auch auslege, daß die Gemeinde davon gebessert werde… 4. Mose - Kapitel 11


Es wird hier also gelehrt, dass der Mensch durch die Zungenrede, die Hinwendung an den Hohen Geist/die Hohen Geister, zu einem „besseren“ Menschen werden soll. Er kann sich damit also selbst veredeln, indem er diese Fähigkeiten zunächst im Besonderen (=privat) und später im Allgemeinen (=anderen Menschen, der Gemeinschaft) zugute kommen lässt. Die Weissagung wird hier als die verfeinerte oder gar vollendete Form des Zungenredens verstanden.


Glossolalia in anderen Kulturen

Im Schamanismus finden sich Formen des Zungensprechens, die u. a. bei Heilungszeremonien in Erscheinung treten. Der Schamane/Heiler legt seine Hand auf bzw. berührt erkrankte oder geschwächte Körperstellen, während er für den Empfänger unverständliche Laute, Gesänge, Gebete, Murmeln, manchmal leise, geflüstert, manchmal aber auch laut und energisch als Mittel der Kommunikation mit seinen Geistern verwendet.
Auch ist von immer wiederkehrenden Formeln die Rede, die sich aus den Kontakten mit den Naturkräften oder Elementen ergeben. Demnach besitzen Wind, Sturm, Regen, aber auch verschiedene Krankheiten häufig eigene Bezeichnungen in der „Zungensprache“, die dem Schamanen mittels Durchgabe und/oder innerer Schau von Geistwesen dieser Kräfte übermittelt werden.

Weitere Religionen, die das Zungensprechen praktizieren sind u. a. die kreolischen wie Vodoun/Voodoo, Santeria, Macumba, Umbanda, Candomblé, aber auch der Synkretismus, mit der Neuformung spiritueller Konzepte aus z. T. alten Traditionen und modernen Interpretationen, u. a. im Neuheidentum mit seinen verschiedenen spirituellen Strömungen (Wicca, Thelema u. a.).

Interessant ist dabei: Der Erkrankte nimmt diese Laute während der Heilungszeremonie ohne dass er sie versteht in sich auf, wo sie völlig losgelöst von seinem inneren Zensor, ihre Wirkung entfalten können. Denn jeder weiß, dass wir uns von unserem inneren Kontrollmechanismus nur allzu schwer lösen können. Verstehen wir nicht, was gesprochen wird, dann fangen wir gar nicht erst an, zu bewerten oder uns vielleicht gegen irgendetwas zu sträuben, weil uns z. B. eine Formulierung nicht gefällt, sondern lassen viel eher geschehen und gucken/fühlen auf anderen Ebenen, wie es uns damit ergeht.

Zungenreden und Hypnose

Einige Forscher glauben, dass es sich beim Zungensprechen um eine Form der Hypnose handelt, dem steht allerdings entgegen, dass ein hypnotischer Zustand für das Zungensprechen nicht erforderlich ist. Aber das Zungensprechen ist auch während einer Hypnose möglich. Es gibt beide Formen, die durch eine Trance induzierte oder die spontane Glossalalia.

Hirnforschung und Neurotheologie

Bei mehreren Probanden wurden die Gehirnaktivitäten gemessen, während sie in „Zungen sprachen“. Dabei stellte sich heraus, dass die Aktivitäten im Bereich des Sprachzentrums deutlich abnahmen und die Aktivitäten im emotionalen Bereich zunahmen. Das bedeutet, dass die Glossolalaia von den Gehirnen der Probanden nicht als Sprache im herkömmlichen Sinn verknüpfte wird, sodass das Gehirn diese Region (Sprachzentrum) nicht aktivieren muss. Interessant ist dabei der Aspekt, dass bisher offen ist, was genau diese Zungenrede steuert, denn das Kontrollzentrum war ebenso schwach aktiv, was bei eingebildeten und selbst projizierten Aktivitäten nicht der Fall ist.

Während man also auf den Bildschirmen beobachten kann, wie das Gehirn offenkundig kommuniziert, man aber noch nicht weiß, womit oder mit wem, äußert sich Andrew Newberg (Hirnforscher und Religionswissenschaftler, Universität Pensylvannia) dazu folgendermaßen:
„Es ist faszinierend, weil diese Menschen wirklich glauben, dass ein göttlicher Geist ihre Sprache lenkt. Und sich der Körper auch so verhält, als lenke er sie…“

In magisch-okkulten Traditionen

In einigen magischen Strömungen werden Namen und Anrufungen von Geistern, Göttern oder Engeln teilweise in der Zungenrede übermittelt. Manche geistigen Wesenheiten übermitteln Namen, die sich nicht in die menschliche Sprache übersetzen lassen. Der Name wird dann „vermenschlicht“, d. h. so lange geformt, bis er der Qualität der Wesenheit, die ihn übermittelt hat, entspricht.

In diesem  Zusammenhang ist auch die Schöpfung von Sprachsigillen/Wortsigillen möglich, die ganze Worte oder Willenssätze in einem einzigen „Zungenwort“ oder einer „Zungenwortfolge“ beinhaltet. Eine solche „Zungenwort-Sigille“ kann u. a. für eine Wesenheit selbst, eine Naturgewalt (z. B. im  Zuge einer Beschwörung) oder für ein Gesamtereignis (Gebet, Heilung, Verehrung, Segnung, Fluch) stehen.


Fiktive Sprachen und Glossolalia

Es ist nicht immer eindeutig, ob sich die fiktiven Sprachen, wie sie z. B. manche Autoren oder Filmemacher „erfinden“, nicht auch eine gewisse Form von Glossolalia darstellen.

Es gibt aber in der Geschichte immer wieder Persönlichkeiten, die sich mit diesen Fähigkeiten einen Namen gemacht haben. Historisch zu nennen wären u. a. folgende Beispiele:

Hildegard von Bingen
Johanna von Orléans
Michel de Notre Dame (Nostradamus)
Jakob Böhme
John Dee (Henochisch, Sprache einer Engelgruppe)
Emanuel Swedenborg
Jakob Lorber


Glossolalia in Literatur und Musik

Wenn mediale Fähigkeiten und Sprachbegabung zusammen kommen, entstehen u. U. herausragende Werke, die ganze Generationen von Zuhörer, Zuschauer und Leser in ihren Bann ziehen.

Hierzu gehören zweifelsfrei das Lebenswerk von JRR Tolkien, der sich für die übermenschlichen, majestätischen Elben eine eben solche übermenschliche, engelsgleiche, majestätische Sprache ausdachte. Und damit nicht genug. Er entwickelte die Sprachen zweier Elbenstämme, samt Stammbaum, Vokabeln, Grammatik und Phonetik. Ein weiteres Beispiel ist die fiktive Sprache der Klingonen in der Star Trek-Reihe. Was zunächst nur als Randerscheinung für den Film angedacht war, entwickelte sich mit der Zeit durch verschiedene Personen zu einer komplexen, logischen und in sich geschlossenen Sprache, die inzwischen von etlichen Fans und Linguisten aktiv gesprochen wird und sogar durch eine weltweit vernetzte Vereinigung bewahrt, gelehrt und verbreitet wird.


Beispiele in der Musik:

Dead Can Dance        Cantara; Host of Seraphim
Mike Oldfield            Tubular Bells
Elton John                  Solar Prestige a Gammon
David Bowie              Warszawa                  
Pink Floyd                  The Great Gig in the Sky                  
Loreena McKennitt    Incantation


Lass’ Zungen sprechen.

In diesem Sinne: Frohe Pfingsten.

Blessed be - Sei gesegnet!