Dienstag, 31. Mai 2011

~ Der Atzmann ~

 
Autor: Anthera
 


Unter dem Begriff Atzmann versteht man im Allgemeinen eine Figur oder Puppe, die zu einem magischen Zweck hergestellt wurde. Diese stellt im sympathiemagischen Sinn den Stellvertreter eines Menschen dar, auf den mithilfe magischer Beschwörungen und auf eine bestimmte Weise bewusst Einfluss genommen werden soll.

Im magisch-okkulten Verständnis stehen der Mensch und sein Abbild in einer analogen Beziehung zueinander, d. h. das Einwirken auf den Stellvertreter hat die direkte Auswirkung auf den Menschen zur Folge.

Weniger erhalten hat sich hingegen die Vorstellung, dass die Sympathiemagie bzw. der Analogiezauber sich auch für konstruktive Zwecke – also nicht im Sinn der Schädigung, sondern im Sinn der Stärkung, Umkehrung oder Transformation einer ungünstigen Position einsetzen lässt.

Etymologisch stammt der Begriff „Atzmann“ wahrscheinlich vom Wortstamm atzen, ätzen, verzehren oder tilgen. Der Atzmann wird daher auch als Personifikation jener Kraft verstanden, die [etwas] schwinden lässt, weshalb er auch mit allen charakteristischen „Zehr-Krankheiten“, wie z. B. Schwindsucht, Typhus, Malaria (im Mittelalter noch weit verbreitet) und Pocken identifiziert wurde.

Beim Atzmann der mittelalterlichen Kirchengeschichte handelt es sich um eine offenbar in Vergessenheit geratene Besonderheit. Ein Zeugnis magischer, vermutlich sogar teilweise heidnischer Bräuche, deren Wurzeln so alt sind, dass sie zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr (oder noch nicht wieder) abschließend zugeordnet werden können.

Der Zweck des Atzmannes z. B. im Ostchor zum Naumburger Dom, war sicher nicht das Tragen eines Pultes, sondern es liegt eher nah, dass der Atzmann etwas, das sich auf dem „Pult“ befand, präsentierte. Etwa eine Liste, aus der Namen vorgelesen wurden usw. Erhalten hat sich bis heute nunmehr eine sehr vage Vorstellung des „Pultträgers“, die aber bei genauerer Betrachtung selbst in Fachkreisen mehr Fragen als Antworten aufwirft.

Denn der Atzmann als Skulptur oder Statue taucht historisch belegt ab dem 13. Jahrhundert auf und verbreitete sich in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten ziemlich schnell. Wer oder was ihm als Vorbild diente, ist hingegen unbekannt. Um ihn als eine „Modeerscheinung“ sehen zu können, müssen allerdings das vorherrschende Weltbild und die Lebensumstände der mittelalterlichen Gemeinschaft in die Überlegungen mit einbezogen werden.

Zur Zeit der ersten Atzmänner, dem der Atzmann im Naumburger Dom ca. 200 Jahre später folgte (zu einer angenommenen Hoch-Zeit der Atzmänner) waren die Evangelien keine normalgewichtigen Bücher, die man während der heiligen Messe auf ein Lesepult stellte. Vielmehr handelte es sich bei den Evangelien- und Chorbüchern des 13. und der Folge-Jahrhunderte um derart gewaltige und reich verzierte Handschriften, dass im Dom-Inneren eigens dafür geschaffene Buchpulte – so groß wie kleine Hütten -existieren, auf denen die großen Bücher abgelegt wurden. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass der Atzmann deshalb die Funktion hatte, die überdimensionalen, häufig 70 – 80 Kilo schweren Bücher während der Messen zu halten. Das „Pult“, welches der Atzmann trägt, ist dafür zu klein und viel zu schmal.


Der Atzmann als „Verzehrer“ oder “Tilger“

Der Atzmann könnte in seiner Personifizierung als eine zehrende oder verzehrende Kraft ein „Tilger“ gewesen sein und auch innerhalb eines Ritus’ diese Funktion eingenommen haben. Da uns u. a. aus den Jahrhunderten um die mysteriösen Atzmänner bekannt ist, dass diese in einem analogiemagischen Zusammenhang bzw. eines bestimmten „Zehr-oder Schwind-Ritus’ stehen.

Zunächst lag die Überlegung nah, der Atzmann könnte mit den Totenmessen des Mittelalters in Zusammenhang stehen. Die Totenmesse wie wir sie heute kennen (Requiem) gibt es in seiner heutigen Form erst seit relativ kurzer Zeit. Im Mittelalter gab es einen anderen Ritus. Und wir wissen nicht, ob der Atzmann dort vielleicht eine Rolle gespielt haben könnte, indem er z. B. eine Liste der Namen von Verstorbenen hielt, die naturgemäß nicht so umfangreich war wie die Evangelien und auch ständig erweitert oder gar erneuert wurde. Die Namen der Verstorbenen wurden damals wie heute am Ende des (Kirchen)Jahres verlesen. Möglicherweise war der Atzmann also derjenige, der die Namen der Verstorbenen aus dem Buch des Lebens tilgte/ätzte. Dann wäre allerdings ein Rätsel, warum der Zweck des Atzmanns nicht überliefert wurde, wo doch heute noch Namen der Toten aus einer Jahreschronik verlesen werden. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Funktion des Atzmannes mit heutigen Kirchenriten nicht mehr in Einklang zu bringen ist und daher vergessen wurde.

Da im Mittelalter Mystik, Magie und Religion Hand in Hand gingen, wende ich mich einer weiteren „Zehr“-Möglichkeit zu, deren Erinnerung in den letzten Jahrhunderten aus dem allgemeinen Bewusstsein gerutscht ist.


Der Atzmann in Verbindung mit dem Kirchenbann

Zu der Zeit, in die die noch erhaltenen Atzmänner und ihre Vorlagen datiert werden, war es ein übliches Prozedere, dass einige Zeitgenossen unter den Kirchenbann gestellt wurden. In der Regel waren dies Ketzer, weniger Hexen (wie man im Allgemeinen nach wie vor gern glaubt), sofern die Hexe sich nicht in ketzerischer Absicht über die Kirche oder den christlichen Glauben äußerte. Tatsächlich befassten sich nur sehr wenig Päpste mit der Hexenverfolgung, viel mehr wog die Verfolgung der Ketzer, also Menschen, die die Kirche offen kritisierten, ihr abschworen, heidnische Rituale durchführten und dazu die Sakramente der Kirche missbrauchten. In den Augen der Kirche wogen diese Verfehlungen schwerer als so manch kleiner Gebrauchs-Hexenzauber und man verwendete den Großteil der Zeit im Aufspüren ketzerischer (Geheim-)Organisationen.

Für den „Großen Kirchenbann“ wurden entsprechende Messen abgehalten und die Namen der Gebannten während der folgenden Gottesdienste von einer „Bannliste“ verlesen. Die Ketzer wurden also ganz bewusst nicht vergessen, sondern in jeder nachfolgenden Messe wurde der Bann wiederholt und die Kirchgänger vergaßen dadurch nicht, wer aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen wurde, wer die Kirche nicht mehr betreten durfte oder wer sich allen öffentlichen Veranstaltungen wie Jahrmärkten, Schaukämpfen, Hochzeiten usw. fernzuhalten hatte. Der Ausschluß des Ketzers wirkte sich auf sein gesamtes, öffentliches Leben aus. Und darüber hinaus betraf es ihn auch im Tod, denn als „Abgefallener“ konnte er nach damaliger Überzeugung nicht in die Gemeinschaft der Seligen aufgenommen werden und war allenfalls auf die Fürbitten der Lebenden angewiesen. Der Atzmann hier also als Wegbereiter des „Fegefeuers“ (Verzehr-Feuers). Und ein „Chronist“ der aus der Gemeinschaft verworfenen Ketzer. Als ein Mahner, der das Buch jener Namen in den Händen hält, die aus der Gemeinde der Gläubigen gestrichen (geätzt) wurden.

Fakt ist: Man hat die wenig verbliebenen Atzmänner irgendwann (vielleicht nach einem Konzil?) in die Ecken der Dome gestellt und ihren Sinn und Zweck über die Jahrhunderte vergessen.

Aber die Namen, mit denen diese Figuren verbunden waren, sind wahrscheinlich unauslöschlich in den Gedächtnisspeicher einer früheren Kultur und deren Menschen graviert. Als direkt oder indirekt Betroffene, Verwandte oder Nachbarn, Mitglieder des Dorfes und in ihrer ganz individuellen Rolle innerhalb jener Dorf- oder Stadtgemeinde. Als Bäcker, Wirt, Magd, Barbier oder Hufschmied.

Und wer einmal eine geachtete Stellung hatte und unter die Kirchenbann des Atzmannes fiel - wenn es denn so gewesen ist – der stieg auch gesellschaftlich ab und konnte nur noch einem unehrbaren Beruf, z. B. dem des Totengräbers, des Abdeckers/Schinders oder der Prostituierten nachgehen.


Wie dem auch sei: Ich hoffe zumindest, dass der Atzmann für einen „Andreas“, der ihm im 17. Jahrhundert begegnete, eine nicht mehr ganz so verheerende Wirkung gehabt hatte. Denn dieser hatte sich auf der Brust des Atzmannes im Naumburger Dom verewigt. Wenn die Jahreszahl (1653) stimmt, könnte dieser Andreas vielleicht jemand gewesen sein, der entweder nicht vergessen werden wollte oder jemand anderes hat seinen Namen auf die Brust des Atzmannes geritzt, um für immer in Andreas’ Gedächtnis zu bleiben.

Vielleicht war es im Jahr 1653 eine verliebte Braut und mit dem Ritzen des Namens auf die Brust/das Herz des Atzmannes (wir erinnern uns: der ja im analogiemagischen Zusammenhang den Stellvertreter einer Person darstellt) machte sie ihre Liebe unsterblich. Was ihr ja – wenn es denn so war – auch irgendwie gelungen ist…

 
 

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